Akademie-Studienleiter Joachim Kretschmar über seine Gedanken zum zweiten harten Lockdown
Ich erinnere mich noch gut an das Gefühls-Wirrwarr beim ersten Lockdown im März: Die Mischung aus Furcht auf der einen und gespannter Erwartung auf der anderen Seite: Furcht, weil man nicht wusste, wie schlimm die Infektionswelle Deutschland treffen wird. Furcht auch, weil völlig unklar war, wie lange der Lockdown dauern wird, was er für meine Arbeit, aber auch für die Wirtschaft insgesamt bedeutet. Zur Furcht kam ein Gefühl ähnlich dem vor einem Aufbruch in ein großes Abenteuer: Wie bereiten wir uns auf Homeoffice und Heimunterricht vor? Sollten wir uns nicht doch bevorraten? Die ersten Zoom-Konferenzen für die Arbeit, dazu neue Familienrituale gegen den Lagerkoller. Regenbogen im Fenster, Abendsingen – all das machte mich, machte uns zum Teil einer Gemeinschaft: Wir zusammen gegen die Epidemie. Das "Wir" wurde und wird beschworen im Kampf gegen Corona.
Von Beginn an gab es die Kritiker der Maßnahmen: Gegen Schul- und Ladenschließungen, gegen das Verschieben von Operationen, gegen Beschränkungen der privaten Kontakte. Manche Gegner des Lockdowns witterten das Ende der Demokratie, bestritten die Gefährlichkeit oder gar die Existenz des Virus. Und auch sie schufen sich ein Wir-Gefühl: Als eingeschworene Gemeinschaft, die wie das kleine gallische Dorf gegen die Übermacht der Herdentiere kämpft, die nicht sehen, wie sie in ihr eigenes Verderben rennen.
Zu diesem Wir-Gefühl war und ist es leicht auf Distanz zu bleiben: Zu viel Verschwörungserzählungen, zu viel Misstrauen und Ressentiments. Wann ich mich auch im "guten" Wir nicht mehr widerfand, kann ich nicht genau sagen. Ganz wunderbar beschrieben finde ich aber das "Panikflattern", das sich bei mir irgendwann einstellte, im neuen Buch von Ijoma Mangold, dem Leiter des Literaturressorts der Zeit. In "Der innere Stammtisch" kommentiert er das Weltgeschehen in Form eines Tagebuchs. Er beginnt im September 2019 und endet im April 2020. Für den 29. März schreibt er: "[…] ich finde es unangenehm, wie auf Facebook Leute geblockt und abgestraft werden, die anderes tun, als das Mantra zu wiederholen, wonach es bei Exponentialkurven nicht um Meinung geht, sondern um bloßes Rechnen. Und wenn jemand sagt, dass er einen Shutdown von einem Jahr für unrealistisch halte, wird er nicht behandelt, als habe er in einer Abwägungsfrage eine Meinung vorgetragen, sondern als litte er unter einer Rechenschwäche."
Mangold beschreibt das Unwohlsein mit seinen eigenen Überlegungen ("Ich will doch weiter zum Drosten-Team gehören, ich möchte den Institutionen vertrauen."). Er versucht seine Zweifel zu klären und ruft einen Freund an, von dem er sich sicher, dass er seine Meinung nicht teilt. Das Gespräch beginnt scharf, Lagerzuweisungen, Unterstellungen. Und dann erzählt Mangold: "Je länger wir reden, desto mehr nähern wir uns an. Unsere Stimmen verlieren ihre Schärfe. Wir liegen nicht mehr auf der Lauer. […] Man […] stellt schließlich fest, dass man sich zwar nicht in der Mitte, aber gewissermaßen im Maß beiderseitiger Ungewissheit trifft. Ungewissheit kann ein verbindender gemeinsamer Nenner sein."
Seit dem Tagebucheintrag von Ijoma Mangold sind Monate vergangen und die Perspektive von heute ist eine andere als die vom Frühjahr diesen Jahres: Wir wissen, dass der erste Lockdown für die meisten Branchen kein Jahr anhielt, wir haben die relative Entspannung im Sommer erlebt und sehen nun seit Wochen wieder steigende Fallzahlen trotz eines "sanften" Lockdowns. Manche Zweifel haben sich geklärt: Wir wissen viel mehr über das Virus. Wir wissen: der Impfstoff ist da – in England wurde gerade die erste Frau gegen Corona geimpft.
Geblieben ist mein Befremden über das Wir-Gefühl, das aus der Gewissheit entsteht, auf der richtigen Seite zu stehen. Noch immer ist meine Facebook-Timeline voll mit Einträgen, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit mancher Schutzmaßnahme als unsolidarisch, egoistisch und dumm verunglimpfen. Selten wird argumentiert, gerne mit Lach-Smileys die andere Meinung als lächerlich gekennzeichnet. Karikaturen und Witze über die Dummheit der anderen Meinung stehen im krassen Widerspruch zu der ausgesprochenen Humorlosigkeit bei Witzen über die eigene Position – bei beiden Seiten des Meinungsspektrums.
(Fortsetzung rechte Spalte…)