An jedem Adventssonntag und an Heiligabend veröffentlichen wir einen Adventsgruß – eine Andacht aus der Akademie. Zum 3. Advent schreibt Akademie-Studienleiter Joachim Kretschmar über ein Zitat von Sören Kierkegaard:
"Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden." Der Satz von Sören Kierkegaard hat Sinnspruch-Karriere gemacht. Man kann ihn sich als Aufkleber für sein Auto bestellen oder als Postkartenmotiv verschicken. Das Zitat verkürzt einen Eintrag aus dem Tagebuch des dänischen Philosophen. Im Original schreibt er: "Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss."
Anders gesagt: Die rückblickende Analyse von Entwicklungen und Entscheidungen, bei der Fehleinschätzungen aufgedeckt werden, darf nicht dazu führen, dass man vergisst: Entscheidungen müssen immer ins Ungewisse hinein gefällt werden. Die Angst davor, dabei Fehler zu machen, kann lähmen. Doch Leben heißt eben auch, Freiheit zu gestalten: vorwärts zu gehen ins Unbekannte.
Gerade die Coronazeit führt ständig vor Augen, wie Recht Kierkegaard hat: Natürlich werden wir erst im Rückblick sicher wissen, welche der aktuell getroffenen Regelungen effektiv geholfen haben, das Virus zu bekämpfen. Erst im Rückblick wird sich erweisen, was die Einschränkungen für Kultur und Wirtschaft langfristig bedeuten. Aber Entscheidungen mussten und müssen getroffen werden. Mit begrenztem Wissen. Mit dem Risiko, Fehler zu machen. So tasten wir uns nun schon seit Monaten vorwärts.
Auch heute, am 3. Advent, wird über neue Regelungen entschieden werden. Sie werden beeinflussen, wie wir in diesem Jahr Weihnachten feiern. Darum werden sie besonders intensiv diskutiert. Denn mit Weihnachten verbinden sich Emotionen. Es ist geprägt durch Rituale und Brauchtum wie wohl kein anderes Fest. Wie schwer uns manche Änderungen in dieser Zeit fallen – vielleicht den Besuch der Kinder abzusagen oder aufs gemeinsame Singen verzichten zu müssen – das spüren wir jetzt, unmittelbar. Doch was es für das Weihnachtsfest 2020 bedeutet, wenn altbewährte Familientraditionen entfallen, werden wir erst rückblickend verstehen.
Wie lässt es sich aushalten, ein sehr ungewisses Weihnachtsfest vor sich zu haben? Weihnachten selber gibt darauf eine Antwort: Schon das erste Weihnachten wurde erst rückblickend verstanden: Historisch richtig ist ganz sicher, dass Jesus ohne großes Aufsehen geboren wurde. Vermutlich ahnten nicht einmal die Eltern, dass hier ein Weltenveränderer geboren wurde. Jahre später haben die Evangelisten ihre Deutung der Geburt aufgeschrieben. Im Rückblick haben sie verstanden, was in der Heiligen Nacht ganz unscheinbar geschehen war. Darum ließen sie Hirten den Heiland besuche, Weise aus fernen Ländern Gaben zur Geburt bringen und Engelschöre singen: "Fürchtet euch nicht!"
Erst im Rückblick konnten wir also verstehen, dass durch Weihnachten das Vorwärts-Leben leichter wird. Vor jeder Entscheidung steht seitdem die Weihnachtsbotschaft, dieses: "Fürchtet euch nicht!" Das gilt eben auch mir, gilt jeder und jedem Einzelnen: Triff deine Entscheidungen. Lebe dein Leben. Vorwärts! Im Rückblick wirst du verstehen, was gut war und was nicht. Aber leben kannst du jetzt. Furchtlos – weil die Botschaft der Engel auch dir gilt: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Jedes Jahr. Egal wie das Weihnachtsfest 2020 werden wird.